Ab 55: ausgemustert – Wenn Erfahrung in der Schweiz nichts mehr zählt

18 November, 2025 | Aktuell Allgemein
Ab 55: ausgemustert: Erfahrung zählt in der Schweiz nichts mehr.
Ab 55: ausgemustert: Erfahrung zählt in der Schweiz nichts mehr.

Sie waren CEOs, Abteilungsleiterinnen, Spezialisten: Menschen, die Unternehmen mit aufgebaut und Krisen gemeistert haben. Heute sind sie still geworden. Seit Wochen höre ich dieselbe Antwort: «Ich bin nicht mehr dort.» Wer über 55 ist, wird auf dem Schweizer Arbeitsmarkt systematisch aussortiert und zwar nicht, aufgrund mangelnder Leistung, sondern wegen hoher Lohnkosten. Ein gefährlicher Trend für Wirtschaft und Gesellschaft.

Vor wenigen Monaten noch sprachen wir über Projekte, Strategien, Innovationen. Heute sind dieselben erfahrenen, vernetzten und loyalen Personen plötzlich unerreichbar. Gekündigt.

Das Muster ist eindeutig: Alter über 55, langjährige Erfahrung, hoher Lohn. Ein Dreiklang, der in vielen HR-Abteilungen als «Kostenrisiko» gilt. Die betroffenen Firmen schweigen, doch Branchenkenner wissen: Diese Entwicklung betrifft nicht Einzelfälle, sondern eine ganze Generation.

Billiger ist das neue Besser

In Konzernen und IT-Dienstleistern, auch in der Schweiz, wird der Rotstift konsequent angesetzt. Ein US-amerikanischer Tech-Gigant mit mehreren hunderttausend Angestellten hat – auch in Zürich – Teams abgebaut. Die Arbeit wird nun von jungen, hochqualifizierten, aber aus Indien stammenden Personen weitergeführt. Zu viel tieferen Lohnkosten.

Ähnliche Entwicklungen zeigen sich in Banken, Versicherungen, Industrie und Beratung. Ersetzt wird oft nicht die Funktion, sondern nur die teure Person. Der wirtschaftliche Verlust durch den Know-how-Abfluss ist nicht eingepreist.

Demografischer Irrsinn

Das Absurde: Die Schweiz altert rapide. Die Babyboomer verabschieden sich in die Pensionierung, die Zahl der Jüngeren schrumpft. Laut Bundesamt für Statistik werden 2035 fast 30 Prozent der Bevölkerung über 65 Jahre alt sein. Die Lücken auf dem Arbeitsmarkt werden grösser, nicht kleiner. Schon heute klagen Arbeitgeber in Pflege, Technik, IT und Verwaltung über Fachkräftemangel.

Und dennoch schicken Unternehmen ihre erfahrensten Mitarbeitenden in den Vorruhestand, die 10 oder 15 Jahre produktiv weiterarbeiten könnten. Als hätte man die Wahl zwischen Überfluss und Mangel. Ein Land, das sich solche Verschwendung leistet, darf sich über Fachkräftemangel nicht wundern.

Arbeitslos mit 55: Der stille Absturz

Wer in der Schweiz mit Mitte fünfzig den Job verliert, hat ein Problem. Er fällt zwar weich – aber nur kurz. Die Arbeitslosenversicherung (ALV) zahlt Taggelder maximal 520 Tage, also rund 22 Monate. 120 Taggelder gibt es sofern sie innerhalb von vier Jahren vor dem Erreichen des AHV-Rentenalters arbeitslos werden. Danach ist Schluss.

Der Wiedereinstieg ist oft illusorisch. Weiterbildungen für ältere Arbeitnehmende werden zwar politisch gefeiert, doch in der Praxis entscheiden Unternehmen anders: jung ist günstig – alt ist teuer.

Für viele bedeutet das, wenn kein Vermögen vorhanden ist: Sozialhilfe oder Frühpensionierung mit drastischen Einkommenseinbussen. Einmal aus dem System, gibt es kaum mehr Chancen auf Wiedereinstieg. Selbst Weiterbildungen und Programme für «ältere Arbeitnehmende» sind oft Feigenblätter. Unternehmen loben «Diversität»: aber nicht, wenn sie etwas kostet.

Vorzeitige Pensionierung

Die vorzeitige Pensionierung ist ab 58 Jahren möglich. Nach Art. 47a BVG können Versicherte, die nach dem 58. Altersjahr aus der obligatorischen Versicherung ausscheiden, ihre Vorsorge weiterführen; Reglemente können dies bereits ab 55 Jahren zulassen. Bei Restrukturierungen sind gemäss Art. 1i Abs. 2 lit. a BVV 2 sogar Pensionierungen vor 58 möglich.

Ausgesteuert

Wer in der Schweiz indes keine Taggelder mehr erhält, gilt als ausgesteuert und muss den Lebensunterhalt entweder mit Eigenkapital oder Sozialhilfe bestreiten. Als Sozialhilfebezüger hat man schliesslich Anspruch auf einen Pauschalbetrag für Essen, Kleider und andere Anschaffungen des Grundbedarfs». Dieser beträgt, je nach Kanton, um die 1061 Franken bei Einzelpersonen und 1624 bei einem Zwei-Personen-Haushalt.

Das Bundesgesetz über Überbrückungsleistungen (ÜLG) schützt zudem Arbeitslose über 60, die ausgesteuert werden, indem es ihnen bis zum Rentenbezug Überbrückungsleistungen gewährt, sofern die Voraussetzungen erfüllt sind.

Erfahrung teilen statt verlieren

Dabei gäbe es Alternativen zur Entlassung. Modelle, die Wissen sichern und Kosten senken. Ein Ansatz sind Generationstandems, in denen ein älterer Mitarbeitender sein Pensum reduziert, während eine jüngere Person einsteigt. Know-how bleibt im Unternehmen, und die Nachfolge funktioniert nicht über PDFs, sondern über direkte Zusammenarbeit.

Auch freiwillige Lohnmodelle mit Deckelung wären realistisch. Viele über 55 brauchen keine Spitzengehälter mehr: Kinder sind aus dem Haus, grosse Investitionen abgeschlossen. Ein fairer, reduzierter Lohn bei gesichertem Weiterarbeiten wäre für viele ein Gewinn und für Unternehmen erst recht.

Solche Lösungen erfordern Kreativität im HR, aber mehr Mut als eine Kündigungswelle.

Ein strukturelles Tabu

Altersdiskriminierung ist in der Schweiz kaum geregelt. Es gibt keine spezifischen Schutzmechanismen wie in den USA, wo Entlassungen aufgrund des Alters rechtlich heikel sind. Hier dagegen bleibt man als Betroffener rechtlos zurück und im Zweifel eben «zu teuer».

Dabei sind Menschen zwischen 55 und 65 heute so fit, digital und belastbar wie noch nie. Die Realität jedoch: Sie werden als «nicht mehr entwicklungsfähig» abgestempelt, selbst wenn sie jede Woche neue Tools lernen und Teams führen, die halb so alt sind.

Wer Erfahrung streicht, streicht Zukunft

Wenn Unternehmen ihre erfahrensten Köpfe verlieren, verlieren sie mehr als Lohnkosten: Stabilität, Wissen, Netzwerke, Mentoring und die Fähigkeit, Krisen zu bewältigen. Diese Menschen könnten die Brücke sein zwischen den Generationen, stattdessen werden sie verdrängt.

In einer Wirtschaft, in der alles schneller, komplexer und unberechenbarer wird, braucht es Menschen, die schon mehrere Stürme überstanden haben. Trotzdem sortiert man genau diese Menschen aus.

Eine gefährliche Schieflage

Die Schweiz steht vor einem Paradox: Immer mehr ältere Menschen wollen und können arbeiten, aber immer weniger dürfen. In einem Land, das sich selbst als Innovationsweltmeister feiert, herrscht beim Umgang mit älteren Arbeitskräften erstaunliche Rückständigkeit.

Es braucht endlich ein Umdenken: Weg vom Kostenblick, hin zum Kompetenzblick. Denn wer die Generation 55+ aus dem Arbeitsleben drängt, verspielt das, was er am dringendsten braucht. Das Narrativ lautet: Nicht «zu alt», sondern «zu wertvoll, um verloren zu gehen».

Binci Heeb

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