Elektronisches Patientendossier: Warum die Schweiz hinterherhinkt – und wie Deutschland Tempo macht

8 August, 2025 | Aktuell Allgemein
Elektronisches Patientendossier (EPD) kommt nicht vom Fleck.
Elektronisches Patientendossier (EPD) kommt nicht vom Fleck.

Seit mehr als sieben Jahren will die Schweiz mit dem elektronischen Patientendossier (EPD) die Gesundheitsdaten ins digitale Zeitalter führen. Ziel war es, Patientinnen und Patienten den Zugriff auf ihre medizinischen Unterlagen zu erleichtern und den Informationsaustausch zwischen Ärztinnen, Spitälern und Apotheken zu verbessern. Die Realität sieht ernüchternd aus: Ende Juni 2025 waren bei gut neun Millionen Einwohnern gerade einmal rund 117’000 Dossiers eröffnet.

2017 trat das Gesetz in Kraft, doch das Projekt kommt kaum voran. Hauptprobleme sind fehlende Verbindlichkeit und Anreize: Für Ärztinnen und Ärzte gibt es weder eine Pflicht zur Teilnahme noch eine Vergütung für den zusätzlichen Aufwand. Viele Praxen sehen daher keinen Nutzen. Hinzu kommt das föderale System mit 26 Kantonen, unterschiedlichen Spitalstrukturen und fragmentierten Standards, was die Koordination zusätzlich erschwert.

«Das EPD war gut gemeint, aber schlecht umgesetzt», kritisiert Stefan Spycher, Präsident der Stiftung Gesundheitsförderung Schweiz in einem Artikel der Republik. «Ohne klare Regeln und Anreize bleibt es ein Papiertiger.»

Datenschutz: Schutzschild oder Bremse?

In der Schweiz steht der Datenschutz ganz oben – und das ist sinnvoll. Dennoch gilt er manchen als Vorwand, um grundlegende Reformen hinauszuzögern. Kritische Stimmen verweisen auf Studien des Schweizerischen Gesundheitsobservatoriums (Obsan‑Berichte) und internationale Vergleiche: Länder wie Dänemark oder Estland beweisen, dass Datensicherheit und Benutzerfreundlichkeit vereinbar sind.

Für Bürgerinnen und Bürger ist das EPD derzeit wenig attraktiv. Wer ein Dossier eröffnen will, muss sich bei einer der sechs Stammgemeinschaften und einer Gemeinschaft anmelden und sich persönlich bei einer zertifizierten Stelle identifizieren. Ein aufwendiger Prozess, der viele abschreckt. Auch die Benutzeroberfläche gilt als wenig intuitiv.

EPD-Gemeinschaften
Akzeptanz bleibt gering – Vertrauen und Komfort sind Schlüssel

Die Akzeptanz des EPD in der Schweiz ist laut Swiss eHealth Barometer 2025 weiterhin verhalten. Zwar hält eine Mehrheit von 55 Prozent das EPD für eine gute Sache, doch 35 Prozent sind unentschlossen, und nur 38 Prozent fühlen sich im Umgang damit sicher. Datenschutzbedenken bleiben ein zentrales Hindernis: 56 Prozent befürchten Missbrauch sensibler Daten, während 57 Prozent dem Datenschutz rund ums EPD vertrauen.

Den grössten Nutzen sehen die Befragten in der Verfügbarkeit wichtiger Informationen im Notfall (82 Prozent) sowie im erleichterten Zugriff auf Behandlungsdaten (71 Prozent). Die Bereitschaft, essenzielle Daten wie Allergien oder Impfungen zu speichern, ist hoch, dennoch bremsen komplizierte Prozesse und fehlende Integration in den Praxisalltag die Nutzung. Besonders gefragt sind praktische Zusatzfunktionen wie Erinnerungen für Rezepte (87 Prozent) und Impfungen (86 Prozent), die das EPD attraktiver machen könnten.

Deutschland setzt auf Opt-out und Druck

Deutschland startete 2021 mit seiner elektronischen Patientenakte (ePA) ebenfalls zögerlich. Doch Berlin zog Konsequenzen: Mit dem Digitalgesetz 2024 wurde das System verpflichtend, allerdings nach dem Opt-out-Prinzip. Ab 2025 erhält jede gesetzlich versicherte Person automatisch eine Akte, sofern sie keinen Einspruch erhebt. Ärztinnen und Ärzte müssen Daten einpflegen und erhalten dafür Vergütungen.

«Das Opt-out-System ist ein Game-Changer», erklärt Jens Baas, Vorstand der Techniker Krankenkasse in apotheke adhoc. Bis Ende 2025 sollen über 80 Prozent der Versicherten aktiv auf ihre ePA zugreifen. Die Krankenkassen investieren massiv in benutzerfreundliche Apps und Informationskampagnen. Ziel ist, den Versicherten echten Nutzen zu bieten – etwa durch übersichtliche Impfpläne, Laborwerte oder Medikationslisten. Erste Pilotprojekte zeigen: Je einfacher die Handhabung, desto höher die Akzeptanz.

Direkter Vergleich: Schweiz vs. Deutschland
FaktorSchweiz (EPD)Deutschland (ePA)
Start20172021
Nutzung< 5% der BevölkerungOpt-out ab 2025
TeilnahmeFreiwilligAutomatisch (Opt-out)
Pflicht für ÄrzteNeinJa, ab 2025
Vergütung ÄrzteKeineJa
ZugangKomplex, vor OrtEinfach via Krankenkassen-App
Wohin steuert die Schweiz?

Die Pandemie hat gezeigt, wie wichtig eine digitale Vernetzung des Gesundheitswesens wäre. Doch solange es keine verbindlichen Vorgaben, keine Integration in Praxissoftware und keine finanziellen Anreize gibt, bleibt das EPD ein Nischenprojekt. Viele Expertinnen und Experten fordern deshalb eine Opt-out-Regelung nach deutschem Vorbild.

Am Ende geht es nicht nur um Technik, sondern um Vertrauen, klare Prozesse und den politischen Willen, endlich Tempo zu machen. Die Frage ist: Wartet die Schweiz, bis der Rückstand uneinholbar wird, oder nutzt sie die Chance zum Aufbruch?

Binci Heeb

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