KI urteilt nicht – sie bereitet vor: Entscheidung liegt weiter beim Menschen
7 November, 2025 | Aktuell Allgemein Interviews
Die Europäische Reiseversicherung ERV setzt zunehmend auf Künstliche Intelligenz, um Schadensprozesse zu beschleunigen und die Kundenerfahrung zu verbessern. CEO Walter Wattinger spricht über die Balance zwischen Automatisierung und menschlichem Urteil, über Vertrauen in Algorithmen und über die Grenzen von Effizienz.
Walter Wattinger, CEO der Europäischen Reiseversicherung ERV, über Status, Nutzen und nächste Schritte.
Herr Wattinger, wie weit ist die ERV bei der Automatisierung von Schadensfällen mit KI und warum starten Sie ausgerechnet bei der Tierversicherung?
Wir haben in der Schadenbearbeitung bereits etliche Schritte automatisiert. Mit «Pet Excellence» heben wir unsere Tierversicherung wau-miau nun end-to-end auf ein neues Niveau: vom Eingang des Tierarztdokuments bis zur Auszahlung. Der Fokus auf die Tierversicherung hat zwei Gründe: starkes Wachstum und eine hohe Schadenfrequenz pro Police. Beides verlangt nach effizienten, skalierbaren Prozessen.
Welches Problem lösen Sie damit intern am stärksten?
In der Tier-Schadenabwicklung setzen wir bewusst auf Fachwissen von erfahrenen Tierpraxisassistenten. Diese Expertise ist rar und begehrt. Mit KI entlasten wir das Team dort, wo Routinen dominieren und sichern die Qualität für die komplexen Fälle, in denen Erfahrung zählt.
In welchen Phasen der Schadenprozesses kommt KI im Prozess zum Einsatz?
Tierarztrechnungen sind heterogen, handschriftlich, digital, unterschiedlich strukturiert. Unser System liest Position für Position aus, gleicht sie mit Produkt- und Paketregeln ab und visualisiert alles in einer UI für die Mitarbeitenden: Originalrechnung, extrahierte Positionen, Leistungsbaustein, Deckung ja/nein. Die KI erstellt also eine Vorbeurteilung, die Entscheidung liegt jedoch immer beim Menschen. Ein paar Klicks später wird die Zahlung ausgelöst.
Wie verändern sich dadurch Bearbeitungszeiten und die Kundenerfahrung?
Wir haben die Kolleginnen und Kollegen von Beginn weg einbezogen. Sie haben UX mitgetestet, Trainingsdaten kuratiert und Use Cases validiert. Das erhöht Akzeptanz und Qualität. Jobprofile verschieben sich, es gibt weniger Copy-Paste und mehr analytische Plausibilisierung in höherer Taktung. Wichtig ist und bleibt der persönliche Kunden- und Tierarztkontakt, somit gewinnt auch die Kommunikationsfähigkeit an Bedeutung.
Was merken Kundinnen und Kunden?
Schnellere Bearbeitung und mehr Transparenz. Sie sehen, welche Position von ihrer Versicherung gedeckt ist und welche nicht? Repetitive Schritte laufen im Hintergrund, das Team konzentriert sich auf die anspruchsvollen Fälle. Der Schadenfall ist der «Moment der Wahrheit» einer Versicherung. Dort wollen wir unsere Effizienz auch bei wachsenden Schadenmeldungen beibehalten.
Wie stellen Sie Nachvollziehbarkeit und Fairness sicher?
Erstens: Human-in-the-loop. Zweitens: ein sauberer Audit-Trail, der zeigt, welche Daten lagen vor, wie wurde beurteilt. Drittens: konsistente Anwendung der Allgemeinen Versicherungsbedingungen und interner Weisungen. So führen identische Fälle zu identischen Ergebnissen. Das alles ist Teil unseres mehrschichtigen Guardrailings (Einziehen von Leitplanken, um Fehlverhalten oder unerwünschte Ergebnisse zu verhindern).
Welche Datenbasis braucht verlässliche KI in diesem Setting?
Gute Trainings- und Arbeitsdaten, in den relevanten Sprachen, vollständig, leserlich, interpretierbar. «Garbage in, garbage out» (Wenn man schlechte, fehlerhafte, verzerrte oder unvollständige Daten in ein System einspeist, kommen auch schlechte Ergebnisse heraus) gilt hier kompromisslos. Wir verifizieren kontinuierlich, validieren und entwickeln die Methodik der KI mit laufenden Fällen weiter.
Und die Akzeptanz automatisierter Entscheidungen?
Transparenz ist der Schlüssel. Wir kennzeichnen den Einsatz von KI offen. Beispielsweise beim Upload der Rechnung. Wo Fragen entstehen, sind wir vorbereitet und erreichbar. Entscheidend bleibt immer: Am Ende entscheidet ein Mensch.
Regulatorik & Datenschutz: Wie bleiben Sie rechtskonform?
Wir arbeiten in einem hochregulierten Umfeld. Interne Gruppenweisungen zum KI-Einsatz, juristische Reviews, passende Systemumgebungen für externe Entwicklungspartner und regelmässige interne Audits sorgen dafür, dass Datenschutz und Compliance eingehalten werden. Vertrauen und Versicherung gehören untrennbar zusammen.
Wo ziehen Sie Grenzen für KI-Entscheidungen?
Heute entscheidet bei uns grundsätzlich immer der Mensch. Perspektivisch wird man über Grenzfälle diskutieren. Klar ist: Die Regulatorik wie der EU-AI-Act setzt den Rahmen, innerhalb dessen wir verantwortungsvoll gestalten.
Welche Rolle spielen Startups und Technologiepartner?
Sie sind wichtige Impulsgeber. In der Praxis trennt sich die Spreu vom Weizen, sobald es um Integration in Kern- und Umsysteme, APIs und Datenschutzanforderungen geht. Daneben wollen wir die Zusammenarbeit mit Hochschulen ausbauen, da Wissenschaft und Wirtschaft sich gegenseitig befruchten.
Wohin entwickelt sich die Schadenabwicklung: Stichwort Generative KI und End-to-End?
Bei «Pet Excellence» ist der Einstieg zunächst für repetitive Aufgaben, als Nächstes blicken wir auf die Krankheitsgeschichten für effizientere Beurteilungen über mehrere Datenpunkte hinweg. Das lässt sich auf weitere Sparten skalieren. Parallel dazu treiben wir die Betrugserkennung voran, um Missbrauch früher und präziser zu erkennen.
Woran messen Sie den Erfolg in naher Zukunft?
An harten KPIs wie der durchschnittlichen Schadenabwicklungszeit. Zudem beobachten wir die Wiedererwägungsquote, die Aufwand und Qualität gut abbildet und hören genau hin, wie sich die Jobzufriedenheit im Team entwickelt. Wichtig ist mir, dass Effizienz nie auf Kosten von Fairness und Qualität gehen darf.
Was sind die nächsten KI-Schwerpunkte ausserhalb der Schadenabwicklung?
Im Kundenservice mit intelligenter Triage eingehender Anfragen und qualitativ starke, vorformulierte Erstantworten, aber stets mit menschlicher Bewertung. Zudem sehen wir Potenzial im Pricing, wo grosse Datenmengen und feinere Tarifierung einen klaren Mehrwert schaffen. Und natürlich die Skalierung der Schaden-Automatisierung auf weitere Linien, wo es sinnvoll ist.
KI beschleunigt und strukturiert, aber sie ersetzt nicht das Urteil erfahrener Menschen. Genau dieses Zusammenspiel macht den Unterschied.
Die Fragen wurden von Binci Heeb gestellt.
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