Seismische Sicherheit als Nachhaltigkeit: Wie Builtstop den Erdbebenschutz neu erfindet
4 November, 2025 | Aktuell Allgemein Interviews
					  Builtstop, ein Schweizer Ingenieurs-Startup, hat gerade den Swiss Sustainability Challenge 2025 für seine bahnbrechende Innovation NegSV gewonnen. Es handelt sich um einen intelligenten seismischen Energieabsorber, der ohne invasive Bauarbeiten auf dem obersten Stockwerk bestehender Gebäude installiert werden kann. Das Unternehmen wurde von einem multidisziplinären Team aus Bauingenieuren und Forschern der ETH Zürich und führenden europäischen Institutionen gegründet und macht Erdbebensicherheit zu einer Frage der Nachhaltigkeit: Schutz von Menschenleben, Vermeidung von Bauschutt und Verlängerung der Lebensdauer von Gebäuden.
Mit geplanten Pilotinstallationen in Südeuropa und langfristigen Ambitionen in Japan will Builtstop neu definieren, wie Städte sich auf Erdbebenrisiken vorbereiten und gleichzeitig ihren CO2-Fußabdruck verringern können. Thebrokernews spricht mit Konstantinos Chondrogiannis.
Wie funktioniert NegSV vereinfacht gesagt und worin unterscheidet es sich grundlegend von herkömmlichen Erdbebensicherungsmassnahmen?
NegSV fungiert als Energieableiter für Gebäude. Es wird im obersten Stockwerk installiert und absorbiert und leitet die Erdbebenenergie von kritischen Bauteilen weg. Im Gegensatz zu herkömmlichen Nachrüstungen sind keine schweren Materialien oder Fundamentarbeiten erforderlich. Das System ist nicht-invasiv, leicht, schneller zu installieren und weitaus kostengünstiger, wodurch ein grossflächiger Erdbebenschutz praktikabel und nachhaltig wird.
Welche wissenschaftlichen Durchbrüche oder Forschungsergebnisse haben diese Technologie möglich gemacht?
NegSV baut auf Fortschritten in der Metamaterialmechanik und bei Systemen mit negativer Steifigkeit auf. Forschungen an der ETH Zürich haben gezeigt, dass kontrollierte negative Steifigkeit Schwingungsenergie effizient ableiten kann, ohne Masse hinzuzufügen, wodurch erstmals ein leichter, modularer Erdbebenschutz möglich wird.
Ist NegSV sowohl für alte als auch für neue Gebäude geeignet oder eignet es sich eher für eine bestimmte Typologie?
NegSV wurde in erster Linie für bestehende Gebäude entwickelt, insbesondere für solche, die vor der Einführung moderner Erdbebenvorschriften gebaut wurden, und bietet eine praktische und kostengünstige Möglichkeit, die Sicherheit ohne bauliche Veränderungen zu verbessern. Es kann jedoch auch in Neubauten integriert werden, um deren Design zu optimieren. Durch die Einbeziehung von NegSV in der Planungsphase können Ingenieure die Abmessungen bestimmter Bauteile sicher reduzieren und so die gleiche oder eine bessere Erdbebensicherheit bei gleichzeitig geringeren Gesamtbaukosten erreichen. Dies macht NegSV sowohl für Nachrüstungen als auch für vorausschauendes, kosteneffizientes Design wertvoll.

Wie wird bei der Installation eine Störung für Mieter und Unternehmen vermieden?
NegSV wird nur im obersten Stockwerk installiert, sodass die unteren Stockwerke und der Grossteil des täglichen Betriebs davon unberührt bleiben. Der Installationsprozess ist schnell und nicht-invasiv und in der Regel innerhalb weniger Tage abgeschlossen. Nur die Mieter im obersten Stockwerk müssen möglicherweise für einen sehr kurzen Zeitraum vorübergehend umziehen, um die Sicherheit während der Installation zu gewährleisten. Nach der Montage erfordert das System keine strukturellen Abrissarbeiten oder schweres Gerät, sodass die Gebäude während des gesamten Prozesses weitgehend bewohnt, funktionsfähig und ungestört bleiben können.
Sie positionieren seismische Sicherheit als Nachhaltigkeitsmassnahme. Warum glauben Sie, dass die Widerstandsfähigkeit von Städten in der Nachhaltigkeitsdebatte bisher zu kurz gekommen ist?
Nachhaltigkeit konzentriert sich oft auf Energie und Emissionen und übersieht dabei die Widerstandsfähigkeit gegenüber Katastrophen. Dabei verursachen Erdbeben enorme ökologische und wirtschaftliche Schäden. Durch die Verhinderung von Schäden und die Vermeidung von Wiederaufbau ist seismische Widerstandsfähigkeit eine der wirkungsvollsten Formen der Nachhaltigkeit.
Wie viel CO₂ können Städte durch Nachrüstung statt Neubau einsparen?
Durch die Nachrüstung mit NegSV können bis zu 300 Prozent der CO₂-Emissionen pro Gebäude eingespart werden, da Abriss und Wiederaufbau vermieden werden. Auf die gesamte Stadt hochgerechnet bedeutet dies eine Einsparung von Tausenden Tonnen Kohlenstoff, was direkt mit den Zielen des Klimaschutzes und der Kreislaufwirtschaft im Einklang steht.
Sehen Sie Potenzial dafür, dass NegSV Teil von Bauvorschriften oder ESG-Rahmenwerken wird?
Ja, NegSV steht im Einklang mit den ESG- und EU-Resilienzzielen und verbindet Sicherheit und Nachhaltigkeit. Da sich die regulatorischen Rahmenbedingungen weiterentwickeln und nun auch Resilienzmetriken umfassen, kann NegSV Städten und Investoren dabei helfen, sowohl strukturelle als auch ökologische Compliance-Standards zu erfüllen.
Warum sind Ihre ersten Pilotprojekte für Südeuropa geplant und nach welchen Kriterien erfolgte die Auswahl?
Südeuropa verfügt über einige der ältesten und anfälligsten Gebäudebestände in Erdbebengebieten, verbunden mit einem steigenden regulatorischen Druck zur Nachrüstung. Diese Regionen bieten ideale Bedingungen, um die Technologie zu validieren und ihre sozialen und wirtschaftlichen Auswirkungen in grossem Massstab zu demonstrieren.
Japan ist ein wichtiger Markt für seismische Innovationen. Was sind Ihre langfristigen Erwartungen dort?
Japan ist der globale Massstab für seismische Technologie. Unser Ziel ist es, durch strategische Forschung und industrielle Partnerschaften in diesen Markt einzusteigen und eine ergänzende Lösung zu bestehenden High-End-Systemen anzubieten, die leichter, kostengünstiger und in dicht bebauten städtischen Gebieten einfacher nachzurüsten ist.
Wie überzeugen Sie Kommunen und Gebäudeeigentümer, die davon ausgehen, dass Erdbebenschutz zu teuer oder zu störend ist?
Wir zeigen ihnen Daten. NegSV ist 80 Prozent günstiger und 90 Prozent schneller zu installieren als herkömmliche Methoden. Keine schweren Bauarbeiten und minimale Ausfallzeiten sind die wichtigsten Vorteile unserer Technologie. Das Gebäude bleibt betriebsbereit und die Sicherheit wird erheblich verbessert. Das ist ein klarer Gewinn in Bezug auf Kosten, Zeit und Widerstandsfähigkeit der Gemeinde.
Auf welche regulatorischen Herausforderungen sind Sie bisher gestossen?
Die Einhaltung lokaler Erdbebenvorschriften und Zertifizierungsstandards ist erforderlich, aber es gibt keine strukturellen oder rechtlichen Hindernisse. Die vollständige Validierung durch die ETH Zürich gewährleistet einen reibungslosen Weg zur Zertifizierung und Kompatibilität mit Eurocode 8 und nationalen Richtlinien.
Wen sehen Sie als Ihre grössten Konkurrenten? Traditionelle Nachrüstungen, neue Technologien oder die Trägheit des Marktes?
Unser Hauptkonkurrent ist nach wie vor die Trägheit des Marktes. Die weit verbreitete Meinung, dass seismische Nachrüstungen zu komplex oder zu kostspielig sind. Traditionelle Methoden wie Basisisolierung oder die Verstärkung von Schubwänden sind gut validiert und wirksam, aber sie sind auch sehr invasiv, zeitaufwändig und erhöhen das Gewicht bestehender Strukturen erheblich, was sie für eine breite Anwendung oft unpraktisch macht. Neue Technologien zeigen Potenzial, erreichen jedoch selten eine vollständige Validierung. Builtstop schließt diese Lücke und bietet wissenschaftlich nachgewiesene Leistung mit einer leichten, schnellen und nicht-invasiven Lösung.
Was passiert, wenn das nächste grosse Erdbeben eine Stadt trifft, in der NegSV eingesetzt wird? Können Sie die zu erwartende Schadensminderung quantifizieren?
In Simulationen und massstabsgetreuen Experimenten reduziert NegSV die Beschleunigung und die Verschiebung zwischen den Stockwerken um bis zu 50 Prozent und senkt damit das Risiko von strukturellen Schäden oder Einstürzen erheblich. Dies führt zu weniger Verletzungen, geringeren Reparaturkosten und einer schnelleren Wiederherstellung für ganze Gemeinden. Darüber hinaus hilft NegSV in dicht besiedelten Städten, in denen Gebäude sehr dicht beieinander stehen, Kollisionen zwischen Gebäuden zu verhindern, eine oft übersehene, aber schwerwiegende Ursache für Erdbebenschäden in städtischen Umgebungen.
Ihr Gründungsteam verbindet akademische Forschung mit praktischer Ingenieursarbeit. Wie hat dieser multidisziplinäre Ansatz die Kultur und den Fortschritt von Builtstop geprägt?
Das ist unsere grösste Stärke. Wir verbinden akademische Präzision mit Pragmatismus aus der Praxis. Unsere Kultur basiert auf Experimenten und Problemlösungen, die es uns ermöglichen, Spitzenforschung in praktische, skalierbare Produkte umzusetzen, die die Widerstandsfähigkeit von Städten wirklich verbessern.
Was ist das häufigste Missverständnis, das Ingenieure oder politische Entscheidungsträger heute in Bezug auf Erdbebenschutz haben?
Dass Erdbebensicherheit mit hohen Kosten, Störungen und Ausfallzeiten verbunden sein muss. NegSV beweist das Gegenteil. Erdbebenschutz kann erschwinglich, schnell und nachhaltig sein und Resilienz zu einem erreichbaren Standard machen, anstatt zu einem teuren Luxus.
Die Fragen hat Binci Heeb gestellt.
Lesen Sie auch: Mut zur Zukunft – Die Gewinner der Swiss Sustainability Challenge 2025