Stress am Arbeitsplatz: Eine globale Bedrohung für Versicherer
19 März, 2025 | Aktuell Allgemein Blog Nicht kategorisiert
Stress am Arbeitsplatz hat sich in den letzten zehn Jahren zu einer Krise entwickelt.
Die Menschen leiden unter einer enormen Arbeitsbelastung zu Hause und am Arbeitsplatz. Eine Yoga-Stunde am Schreibtisch kann den Drang nach kurzfristigen Gewinnen und eine auf «Ambitionen» statt auf realistische Erwartungen ausgerichtete Führung nicht kompensieren. Stress zu Hause beeinträchtigt die Konzentration und Leistungsfähigkeit am Arbeitsplatz, was den Beginn eines Teufelskreises darstellt.
Als Versicherer beobachten wir weltweit einen starken Anstieg der Krankenversicherungskosten, eine Rekordzahl von Arbeitsunfällen und Invaliditätsfällen sowie vorzeitige Todesfälle.
Die Versicherungsbranche allein kann stressbedingte Erkrankungen nicht lösen, spielt jedoch eine entscheidende Rolle bei systemischen Veränderungen. Wir stehen vor einer entscheidenden Herausforderung – und einer grossen Chance –, eine führende Rolle bei der Prävention und Versorgung zu übernehmen.
Krankenversicherung unter Druck
Stress am Arbeitsplatz trägt erheblich zu den Gesundheitsausgaben bei. Laut einer 2019 von der Asia Care Group/Cigna Group veröffentlichten länderübergreifenden Analyse sind zwischen 4 und 19 Prozent der gesamten Gesundheitsausgaben auf stressbedingte Erkrankungen zurückzuführen. Die Studie zeigt, dass 25 Prozent der Krankenhauseinweisungen, 35 Prozent der Hausarztbesuche und 19 Prozent der Notaufnahmen stressbedingt sind.
Allein in den Vereinigten Staaten sind Stress am Arbeitsplatz mit 8 % der nationalen Gesundheitsausgaben (was Kosten in Höhe von rund 190 Milliarden US-Dollar verursacht) und schätzungsweise 120.000 Todesfällen pro Jahr verbunden, wie aus einer gemeinsamen Studie der Harvard Business School und der Stanford University aus dem Jahr 2015 hervorgeht.
Brauchen Sie noch mehr Zahlen? Die Weltgesundheitsorganisation berichtet, dass jedes Jahr 12 Milliarden Arbeitstage aufgrund von Depressionen und Angstzuständen verloren gehen, was zu einem jährlichen Produktivitätsverlust von 1 Billion US-Dollar führt.
Laut dem Gesundheitsdatenbericht von LexisNexis Risk Solutions ist die Inanspruchnahme von psychologischen Dienstleistungen zwischen 2019 und 2023 um 83 Prozent gestiegen. Die Pandemie hat uns alle getroffen, aber vor allem hat sie eine dramatische Krise offenbart: Wir stehen vor einer beispiellosen Krise der psychischen Gesundheit.
Infolgedessen sieht sich die Versicherungsbranche mit stetig steigenden Prämien und Schadenquoten konfrontiert. Kontinuierliches Wachstum ist jedoch keine Lösung – wir laufen Gefahr, diejenigen, die Hilfe benötigen, aus dem System auszuschließen.
Deshalb brauchen wir wirksame, datengestützte Massnahmen, die Stress an der Quelle bekämpfen.
Steigende Arbeitsunfallentschädigungen
Eine wachsende Zahl von Daten deutet auf einen deutlich höheren Anstieg der Arbeitsunfallentschädigungsansprüche aufgrund stressbedingter Verletzungen hin. In den letzten zehn Jahren sind die Ansprüche aufgrund psychischer Belastungen schneller gestiegen als in jeder anderen Kategorie.
In Australien nehmen die Ansprüche aufgrund psychischer Erkrankungen jedes Jahr weiter zu und machen 11 % der schweren Ansprüche im Jahr 2024 aus. Darüber hinaus ist die durchschnittliche Ausfallzeit in diesen Fällen mehr als fünfmal so hoch wie bei allen Verletzungen und Krankheiten zusammen.
Unterdessen berichtet die britische Gesundheits- und Sicherheitsbehörde (HSE), dass Stress, Depressionen oder Angstzustände am Arbeitsplatz mittlerweile die häufigste Ursache für berufsbedingte Erkrankungen sind und jährlich 16,4 Millionen Arbeitstage kosten. Während ein britischer Arbeitnehmer im Durchschnitt 6,8 Tage bei einer Verletzung von der Arbeit fernbleibt, sind es bei Stress, Depressionen und Angstzuständen durchschnittlich 21,1 Tage.
In den Vereinigten Staaten erlauben immer mehr Bundesstaaten «reine stressbedingte»-Entschädigungsansprüche, insbesondere in Fällen, in denen Ersthelfer und Personen betroffen sind, die einem intensiven Trauma am Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Angesichts dieser politischen Entwicklungen können Makler mit einem anhaltenden Anstieg stressbedingter Ansprüche rechnen – und mit den daraus resultierenden notwendigen Anpassungen der Versicherungsbedingungen.
Mehrere europäische Länder haben Burnout als berufliches Phänomen anerkannt, was zu einem Anstieg der Arbeitnehmerentschädigungen aufgrund von Stress am Arbeitsplatz geführt hat.
Behinderung: Eine Flutwelle der psychischen Erkrankungen
Chronischer Stress und arbeitsbedingte psychische Erkrankungen sind weltweit zu einer der Hauptursachen für kurz- und langfristige Arbeitsunfähigkeitsversicherungsansprüche geworden. In den letzten zehn Jahren haben Versicherer und Forscher einen starken Anstieg der Arbeitsunfähigkeitsansprüche aufgrund von psychischen Erkrankungen (die häufig durch Stress am Arbeitsplatz ausgelöst oder verschlimmert werden) festgestellt.
Studien der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zeigen, dass in den Industrieländern ein Drittel bis die Hälfte aller neuen Erwerbsunfähigkeitsrenten aufgrund von Depressionen, Angstzuständen oder Burnout beantragt werden, die häufig auf chronischen Stress am Arbeitsplatz zurückzuführen sind. Obwohl OECD-Arbeitsstudien diesen Trend bereits 2012 aufgezeigt haben, hat sich das Muster fortgesetzt oder sogar verschärft: Bei jüngeren Arbeitnehmern sind fast drei Viertel der neuen Erwerbsunfähigkeitsrenten auf psychische Probleme zurückzuführen.
Die Zahlen sind ernüchternd. Ein Bericht der Geneva Association aus dem Jahr 2023 schätzt, dass weltweit jährlich 15 Milliarden US-Dollar an Invaliditätsleistungen für psychische Erkrankungen gezahlt werden – Tendenz steigend.
Ein Bericht des Chief Risk Officer Forum aus dem Jahr 2021 ergab, dass psychische Erkrankungen in vielen Ländern die häufigste Ursache für Invalidität und vorzeitigen Ausscheidens aus dem Erwerbsleben sind. Außerdem wird festgestellt, dass die Invaliditätsversicherungsansprüche aufgrund psychischer Erkrankungen seit mehr als einem Jahrzehnt steigen.
In Kanada machen psychische Erkrankungen fast 30 Prozent aller Invaliditätsfälle aus. Die Zahl der psychischen Erkrankungen stieg zwischen 2019 und 2022 um 70 Prozent.
Tod durch Überarbeitung: Der ultimative Preis
Der vielleicht beunruhigendste Indikator für Stress am Arbeitsplatz ist die Zahl der vorzeitigen Todesfälle. Eine gemeinsame Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) führt 745.000 Todesfälle durch Schlaganfall und Herzerkrankungen weltweit allein im Jahr 2016 auf lange Arbeitszeiten zurück. Das ist ein Anstieg von 29 Prozent gegenüber dem Jahr 2000 bei Todesfällen aufgrund von Überarbeitung und chronischem Stress.
«Die Studie kommt zu dem Schluss, dass eine Wochenarbeitszeit von 55 Stunden oder mehr mit einem um 35 % höheren Risiko für einen Schlaganfall und einem um 17 Prozent höheren Risiko für den Tod durch ischämische Herzerkrankungen verbunden ist als eine Wochenarbeitszeit von 35 bis 40 Stunden.»
In Japan hat das Phänomen des «Karōshi» (Tod durch Überarbeitung) jährlich Hunderte von Entschädigungsforderungen für Arbeitnehmer ausgelöst, die an den Folgen chronischer Arbeitsbelastung gestorben sind.
Für Lebensversicherer sind diese Zahlen eine deutliche Mahnung, dass beruflicher Stress nicht nur die Produktivität beeinträchtigt, sondern auch tragischerweise das Leben verkürzen kann.
Abgesehen vom menschlichen Leid zeigen diese Statistiken auch, dass sich für alle Beteiligten enorme Chancen bieten, gemeinsam strengere Arbeitsplatzrichtlinien und praktische Massnahmen zum Schutz des Wohlbefindens der Arbeitnehmer zu entwickeln.
Das Skelett im Schrank – die schmale Grenze zwischen Leid und Betrug
Stressbedingte Ansprüche stellen aufgrund der subjektiven Natur der Symptome eine besondere diagnostische Herausforderung dar.
Einerseits laufen sowohl Versicherer als auch Arbeitgeber Gefahr, Opfer betrügerischer Ansprüche zu werden, wodurch sie sich rechtlichen Haftungsrisiken und Reputationsschäden aussetzen. Andererseits darf der Verdacht nicht die echten Bedürfnisse derjenigen überschatten, die tatsächlich unter stressbedingten Erkrankungen leiden.
Chancen in der Krise
Was bedeutet das alles für die Versicherungsbranche? Es unterstreicht, dass die Reaktion auf Stress am Arbeitsplatz nicht länger ein «nice to have» ist, sondern eine wirtschaftliche und ethische Notwendigkeit.
Eine wachsende Zahl von Experten fordert ganzheitliche Strategien, die die Gestaltung der Arbeitsplätze, das Arbeitspensum und eine solide psychologische Betreuung berücksichtigen. Arbeitgeber, die solche Maßnahmen umsetzen, verzeichnen oft eine geringere Fluktuation, weniger Schadensfälle und gesündere, belastbarere Mitarbeiter.
Für uns in der Versicherungs- und Risikomanagementbranche sind diese Trends sowohl eine Warnung als auch eine immense Chance.
Genau deshalb brauchen wir innovative, wissenschaftlich fundierte und technologiegestützte Lösungen. Wir müssen über Spekulationen hinausgehen und in Prävention investieren, indem wir quantitative Messgrössen für Stress entwickeln – Instrumente, die Arbeitgeber und Einzelpersonen in die Lage versetzen, Stress am Arbeitsplatz proaktiv zu erkennen, zu verhindern und zu bekämpfen.
Denn was wir nicht messen können, können wir auch nicht managen.
Mirela Dimofte
Lesen Sie auch: Ist psychische Erkrankung eine Entscheidung?