Vom Verständnis zur Umsetzung: Wie Prozessintelligenz die Schadensbearbeitung neu definiert
12 Dezember, 2025 | Aktuell Allgemein
An einem Round Table in Zürich diskutierten Branchenexpertinnen und -experten, wie intelligente Schadenssysteme, Echtzeit-Prozesseinsichten und moderne Zahlungstechnologien die Versicherungswelt verändern können. Die Gespräche machten deutlich: Die Schweizer Versicherer verfügen über die Instrumente zur Innovation, entscheidend ist nun die Bereitschaft, gewohnte Muster zu hinterfragen.
Der «Intelligent-Claims-Round-Table» mit 14 Teilnehmenden aus acht Versicherungen begann mit einer klaren Botschaft: Zusammenarbeit ist die Grundlage von Innovation. Freek Teunen, Head of Product bei Apolix betonte, dass viele Fachleute seit Jahren in eingespielten Abläufen arbeiten, was den Blick für Verbesserungspotenziale erschwert. Neue Perspektiven – sei es durch neue Kolleginnen, neue Partner oder neue Technologien – können dabei helfen, eingefahrene Routinen zu durchbrechen.

Es entstand ein offener Raum für ehrliche und erkenntnisreiche Diskussionen. Ziel war es, voneinander zu lernen und Impulse zu setzen, die den Schweizer Versicherungsmarkt insgesamt innovativer machen.
Prozessintelligenz: Der Schadensprozess unter der Lupe
Im Zentrum der Veranstaltung stand die Frage, wie Prozessintelligenz die Schadensbearbeitung systematisch verbessern kann. Teunen zeigte anhand eines digitalen Prozesszwillings von Celonis, wie Versicherer ihre realen Abläufe sichtbar machen können, ohne sich auf subjektive Eindrücke verlassen zu müssen. Der digitale Zwilling bildet den kompletten Schadensverlauf ab, vom ersten Schadenhinweis bis zur Auszahlung, und zeigt präzise, wo Verzögerungen oder Fehler auftreten.
Das Beispiel eines Autoversicherers verdeutlichte das Potenzial: Unvollständige Informationen und falsche Zuordnungen in der Bergung eines Fahrzeugs führten zu unnötigen Verzögerungen von durchschnittlich acht Tagen. Für Kundinnen und Kunden bedeutete das längere Wartezeiten und für die Schadenabteilungen steigenden Arbeitsaufwand. Durch die Kombination aus Prozessintelligenz und KI-gestützter Klassifizierung gelang es, diese Ineffizienzen, stets mit dem Menschen als finaler Entscheidungsperson, aufzudecken und frühzeitig gegenzusteuern.
Künstliche Intelligenz im Schaden: Chancen, Druck und die Notwendigkeit von Kontrolle
Viele Teilnehmende hatten bereits einige Erfahrungen mit KI gesammelt. Gleichzeitig herrschte Einigkeit darüber, dass neue Technologien auch neue Risiken mit sich bringen. James Nicholson, Leiter der Schadenabteilung bei der Zurich Insurance, prognostizierte unlängst in der Insurance Times, dass mit wachsender KI-Nutzung auch die Fehlerquote steigen werde.
Am Runden Tisch wurde deshalb diskutiert, wie die Prozessintelligenz als Kontrollschicht dienen kann. KI-Agenten lassen sich gezielt in einzelnen Prozessschritten einsetzen und überwachen. Sobald eine Abweichung zwischen menschlicher Einschätzung und KI-Prognose entsteht, kann ein manueller Prüfschritt ausgelöst werden. Auf diese Weise lässt sich die Wirkung von KI im Alltag nicht nur messen, sondern auch sicher steuern.
Der Netflix-Moment: Warum der Zahlungsverkehr im Schaden modernisiert werden muss
Im zweiten Impuls-Referat lenkte Mirela Demofte von Finsurtech.AI den Blick auf das Thema Zahlungsprozess, das in Innovationsinitiativen oft übersehen wird. Als Schnittstelle zwischen Fintech und Versicherungswelt stellte sie fest, dass Technologien wie virtuelle Einmalzahlungskarten im Versicherungskontext noch kaum genutzt werden, obwohl sie in anderen Branchen längst Standard sind.

Solche Lösungen könnten Schadenersatzleistungen schneller, transparenter und sicherer machen und Kundinnen und Kunden eine Erfahrung bieten, die eher an Streaming-Dienste als an traditionelle Versicherungsvorgänge erinnert. Derzeit sind viele Zahlungsschritte fragmentiert und langsam, was Reibungsverluste sowohl auf Kunden- als auch auf Unternehmensseite erzeugt. Dimoftes Appell war eindeutig: Der Zahlungsverkehr gehört zu den am stärksten vernachlässigten, aber wirkungsvollsten Hebeln der Schadenmodernisierung.
Wenn Datenrealität auf Prozessdesign trifft
Im offenen Austausch zeigte sich, wie komplex Schadensbearbeitung in der Praxis sein kann. Fälle von totalem Verlust leiden häufig unter unvollständigen Unterlagen, was die Einschätzung des wirtschaftlichen Schadens erschwert und zu langen Diskussionen mit Anspruchstellenden führt.
Hinzu kommen lange Wartezeiten auf externe Dokumente wie Polizeirapporte oder Werkstattunterlagen. Während die Prozesse stillstehen, verschlechtern sich dennoch die Leistungskennzahlen. Dies ist ein Konfliktfeld, das allen Anwesenden vertraut war.
Auch interne Zielkonflikte wurden sichtbar: Während Schadensabteilungen auf schnelle Regulierung setzen, bevorzugt die Finanzabteilung oft eine spätere formale Schliessung der Fälle. Selbst die Definition des Begriffs «Schliessung» variiert innerhalb einzelner Unternehmen, was Vergleiche erschwert.
Diese Diskussionen machten deutlich, dass technologische Transparenz nur dann Wirkung entfaltet, wenn strategische Klarheit besteht. Prozessintelligenz kann Abläufe sichtbar machen, aber nicht definieren, welche Ergebnisse ein Unternehmen priorisiert.
Eine Branche im Aufbruch
Der Runde Tisch endete mit einem Gefühl der Zuversicht. Die Instrumente, um die Schadensbearbeitung grundlegend zu modernisieren, sind vorhanden und heissen: Echtzeit-Einblicke in Prozesse, KI-gestützte Entscheidungen und zeitgemässe Zahlungstechnologien. Nun geht es darum, tradierte Muster aufzubrechen und den Mut zum Experimentieren zu entwickeln.
Die Gespräche in Zürich zeigten, dass Innovation dort beginnt, wo Fachleute zusammenkommen, Gewohnheiten hinterfragen und neue Perspektiven zulassen. In der ehrlichen Sichtweise der Anwesenden wurde klar, dass KI zwar in aller Munde ist, aber eher als Ausgangspunkt für andere Initiativen wie Projekte für Automatisierung oder Datenqualität dienen. Die Kernaussage war klar, die Diskutanten wünschten sich lieber eine um 1 bis 2 Prozent verbesserte Qualität der Schadenbearbeitung als höhere Geschwindigkeit.
Die Zukunft der Schadensbearbeitung gehört jenen Versicherern, die bereit sind, nicht nur ihre Technologie, sondern auch ihre Arbeitsweise neu zu denken.
Binci Heeb
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